Die Zukunft zurückholen

05.07.2018
Rundgang über den Wilkhahn Campus mit Besichtigung der Frei-Otto-Pavillons, Fotos: Wilfried Dechau

„Architektur ist vermutete Zukunft.“ – Dieses Zitat von Frei Otto musste irgendwann im Laufe des Architekten-Symposiums „Die Zukunft gestalten – Frei Ottos ideelles Erbe“ fallen, das am 25. Juni 2018 bei Wilkhahn in Bad Münder stattfand. Anlass war das dreißigjährige Jubiläum der vier vom Pritzker-Preisträger entworfenen Produktionspavillons auf dem Wilkhahn-Gelände. Ihre Besichtigung war der Höhepunkt beim geführten Rundgang über den Wilkhahn-Campus, der das Symposium einleitete: Von den Verwaltungsbauten nach dem Entwurf des Bauhaus-Schülers Herbert Hirche (1959) und dem Erweiterungsbau aus den Sechzigern ging es direkt zu den drei zeltartigen Produktionsstätten für Zuschnitt, Nähen und Polstern sowie dem letzten, inzwischen als Büro umgenutzten Pavillon, die von der Holzhängestabkonstruktion der expressiv geschwungenen Dächer überspannt werden.
Einen Abstecher gab es auch zu den Werkhallen mit Photovoltaikdach nach dem Entwurf von Thomas Herzog (1992) und der Energiezentrale, bevor das Symposium im Ursprungsbau des Geländes von Wilkhahn-Geschäftsführer Jochen Hahne und Unternehmenssprecher Burkhard Remmers eröffnet wurde.

Symposium im Altbau bei Wilkhahn unter Moderation von Dr. Ursula Baus, Fotos: Wilfried Dechau

Der Vizepräsident der baden-württembergischen Architektenkammer, Stephan Weber, nutzte hier seine Ansprache für einen Appell an die interessierte Architektenschaft zum Erhalt der von Frei Otto entworfenen Multihalle in Mannheim (1972-75), und bedankte sich bei Wilkhahn sowie den Referentinnen und Referenten nicht nur für das baukulturelle Engagement, sondern auch für die Spende der Honorare beziehungsweise aller Teilnehmerbeiträge zur Erhaltung der Multihalle an den Verein Multihalle e.V.

Dr. Georg Vrachliotis, Foto: Wilfried Dechau

Von den Dimensionen im Werk Frei Ottos …

Dr. Georg Vrachliotis, Professor und Dekan am KIT sowie Kurator der großen Frei-Otto-Ausstellung „Denken in Modellen“ am ZKM Karlsruhe (2016), zeichnete in seinem Einführungsvortrag „Vom Archiv zur Simulation“ ein plastisches Bild von der experimentellen Arbeitsweise Frei Ottos. Von seinem ersten Büro, der „Entwicklungsstätte für den Leichtbau“, bis zu der von Otto herausgegebene IL-Publikationsreihe war diese nicht nur der Produktion von (neuem) Wissen, sondern auch dessen Vermittlung gewidmet. Dabei stellte Vrachliotis die ganze Vielfalt des „Denkens in Modellen“ von Otto vor und bot so gleichzeitig einen Ausblick auf die im Verlauf des Symposiums zu vertiefenden Themen: Von der Grundlagenforschung an minimierten „Tragwerken“, wie sie Seifenblasen zu eigen ist, über das Gestalten mit Luft – den „Pneus“ –, der Arbeit mit textilen „Strumpfmodellen“ oder Netzkonstruktionen bis zu Städte überspannenden Schalendächern und Hängemodellen. – Weil der Arbeit am Modell die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie dem Gebäude selbst, gerieten die Bauten letztlich selbst zum Modell wie das „Wunder“ der 60 Meter frei überspannenden hauchfeinen Holzkonstruktion der Multihalle in Mannheim.

Eike Roswag, Foto: Wilfried Dechau

… über die radikalen Ansätze im Natural Building Lab …

Frei Ottos experimentelle Ansätze sowie sein Bekenntnis zum ökologischen Bauen wurden von Eike Roswag aufgegriffen und weitergeführt. Roswag, Gründungspartner im Büro Ziegert Roswag Seiler ZRS, lehrt seit 2017 am von ihm ins Leben gerufenen Natural Building Lab der TU Berlin. Als Architekt hat er sich mit Lehm-, Bambus- und Holzbauprojekten – häufig im kooperativen Selbstbau – einen Namen gemacht, seine Lehre gründet er explizit auf einen forschenden Ansatz. Hier geht es um selbstbestimmte Lernprozesse und ressourcenschonendes Entwerfen und Bauen. Die Studierenden entwickeln eine eigene konkrete Bauaufgabe, entwerfen diese und bauen das Projekt – im gezeigten Beispiel aus Altholz und Plakatresten.

Ruth Berktold, Foto: Wilfried Dechau

… die Möglichkeiten parametrischer CAD-Modellierung …

Die Transformation von freien organischen Konstruktionen in digitale Zeichnungen und Modelle ist das Thema der Münchner Architektin Ruth Berktold (yes architecture, Hochschule München). Während Georg Vrachliotis die Komplexität der grafischen Übersetzung vom Modell in eine „baubare Zeichnung“ bei Frei Otto gezeigt hatte, stellte Berktold unter dem Titel „Analog wird digital“ eine Reihe geometrisch komplexer zeitgenössischer Bauwerke unter dem Aspekt der parametrischen CAD-Modellierung vor. Mit deren Hilfe konnten beispielsweise die Geometrien von Gebäuden wie dem Rolex Learning Center (SANAA Architekten) oder der Fußballarena in Nizza (Willmotte & Associés) vereinfacht und die Konstruktionsweise beschleunigt werden.

Laura Fogarasi-Ludloff, Foto: Wilfried Dechau

… textiler Bekleidung von Gebäuden …

Für ihre Arbeit mit textilen Materialien fühlt sich die Architektin Laura Fogarasi-Ludloff (Ludloff Ludloff Architekten, Berlin) von Frei Otto inspiriert. Das Büro nutzt semitransparente Textilien als zusätzliche Schicht vor der Fassade oder vor tragenden Bauteilen, um der Architektur eine weitere Dimension hinzuzufügen, die spielerisch zwischen Nähe und Distanz vermittelt. Auch sei das Textile inhaltlich noch nicht so stark besetzt in der Architektur, so die Architektin. Gleichzeitig erfüllen diese Stoffe (bauphysikalische) Funktionen wie Sonnen-, Sicht- oder Schallschutz. Die ökologischen Ansätze Ottos werden von Ludloff Ludloff bei Holzkonstruktionen oder dem Erhalt vorhandener Bausubstanz weitergedacht, wie die Beispiele der „Botschaft für Kinder“ oder der „Turnhalle am Tempelhofer Feld“ zeigen.

Tobias Wallisser, Foto: Wilfried Dechau

… und aktuellen Mikro- bis Makroperspektiven, die sich auf Frei Otto beziehen, …

In direkter Tradition zum primären Forschungsfeld Frei Ottos, den natürlichen Geometrien, steht das Büro LAVA Laboratory for Visionary Architecture. Gründungspartner Tobias Wallisser (Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart) stellte einige Projekte vor, die das experimentelle Bauen von Frei Otto ins 21. Jahrhundert überführen. So zeigte Wallisser eine textile Kunstinstallation im „Customs House“ in Sydney in Anlehnung an Seifenblasenexperimente Ottos, eine Platzüberdachung für das Konferenzzentrum der „Masdar City“, die auf Ottos Sonnenschirme im Innenhof der Moschee in Medina rekurriert, sowie die prozesshafte Überdachung einer utopischen „Wüstenstadt“ mit Hilfe pneumatischer „Wolkendächer“, die den heißen Wind abhalten sollen, um eine CO2-neutrale Urbanisierung der Region überhaupt ansatzweise realistisch zu denken.

Jan Knippers, Foto: Wilfried Dechau

… bis zur kritischen Würdigung der Methodik und dem Verschmelzen von Entwurf und Konstruktion in der Robotik.

Dr. Jan Knippers, Leiter des ITKE in Stuttgart würdigte Ottos Arbeitsweise als „radikales Gegenmodell zum Konzept des genialischen Architekten“, mit der er dem heute verbreiteten transdisziplinären Arbeiten den Boden bereitet habe. Im Gegensatz zum klassisch formgebenden Architektenentwurf sei bei Otto die Form immer aus Regeln und Prozessen entstanden, diese Entwurfsprozesse seien erkenntnisorientiert und ergebnisoffen gewesen. Otto ging es weniger um das Objekt selbst, als um die Methodik. Dennoch sei das von Otto vertretene Paradigma des Leichtbaus als ökologisch, sozial und konstruktiv nachhaltige und damit „gute“ Bauweise im Zeitalter der Globalisierung und ihrer Folgen für Arbeitsmärkte und Transportwege heute so nicht mehr zu halten. Knippers stellte zudem das ITKE-Forschungsprojekt eines Leichtbau-Pavillons vor, dessen Tragwerk aus von Robotern gespannten Carbonfasern besteht. Diese Konstruktionsweise orientiert sich am Bau der Unterwasser-Luftblase der Wasserspinne, die Frei Otto ebenfalls erforscht hatte.

Die Referentinnen und Referenten in der Diskussion mit Dr. Ursula Baus, Fotos: Wilfried Dechau

In der Diskussion: Das Experiment als Zukunftsmodell

So vielfältig das Spektrum der Anknüpfungspunkte aus dem Werk Frei Ottos in den Referentenvorträgen, so lebendig war die Podiumsdiskussion dazu im Anschluss. Unter der Moderation von Dr. Ursula Baus (frei04 publizistik) ging es um die politische Dimension des Architekten- und Ingenieurschaffens. Dass sich nach einer langen Zeit, in der Frei Otto fast vergessen und überholt schien, Architekten heute wieder stärker für sein Werk interessieren, liegt auch an seinem Zukunftsbezug, so Vrachliotis mit Verweis auf das eingangs genannte Zitat. „Das Experimentelle ist heute so stark, weil wir eben nicht wissen, was die Zukunft ist.“, ergänzte Knippers.
Auf die kritische Nachfrage, ob Experimente wie die von LAVA entworfene Wüstenstadt denn tatsächlich nachhaltig seien, antwortete Vrachliotis, dass wir uns „die Zukunft nur zurückholen können, wenn wir uns solche Formen des hypothetischen Denkens erlauben.“ Dieses hypothetische Denken gelte es an den Universitäten weiter zu fördern, denn wir sollten „nicht darauf warten, bis die Zukunft aus dem Silicon Valley kommt.“
Berktold plädierte für eine praktische Herangehensweise nach dem Diktum „Predict the future by designing it.“ und warb für ein „leichtes und schnelles Weiterbauen“, um den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft Herr zu werden. Fogarasi-Ludloff sah die Einflussmöglichkeit der Architektenschaft neben den qualitativen Fragen des „Wie“ vor allem im „gemeinsamen Gestalten der Zukunft, zu denen auch Formen der Nachnutzung“ gehören.
Ähnliche Impulse kamen von Eike Roswag: „Ich bin optimistisch, dass wir große Sprünge machen können, wenn wir uns zusammensetzen und alle zusammen bringen. Dann können wir einen Prozess in den Kommunen anstoßen, der etwas verändert.“ Auch Wallisser sieht den Architekten als treibenden „Visionär“. Es müsse bei der Gestaltung jedoch weniger um „formale Setzungen, als um Prinzipien“ gehen. Auf die Frage aus dem Publikum, ob Architektur nicht gerade davor geschützt werden müsse, von Regularien überfordert zu werden, antwortete Roswag mit der Idee experimenteller gesellschaftlicher Freiräume, so genannter „Pockets“. Sie könnten der Architektur „Handlungsspielräume eröffnen“, die wieder ein echtes zukunftsbewusstes Schaffen zuließen.

In den Pausen des Symposiums gab es Raum für informelle Gespräche. Nach der Podiumsdiskussion überreichte Wilkhahn-Geschäftsführer Dr. Jochen Hahne den Referentinnen und Referenten jeweils ein individuell angefertigtes Exemplar eines 3D-gedruckten Hockers, des PrintStool One von Wilkhahn. Fotos: Wilfried Dechau

Bevor es in die Mittagspause und das anschließende Rahmenprogramm in Hannover ging, waren sich Referenten und Teilnehmer einig, dass der hier angestoßene Diskurs nach einer Fortsetzung ruft. Wir dürfen gespannt sein.

Architekturführung durch den Anbau des Sprengel-Museums von Meili und Peter Architekten (Zürich) durch den Architekten Markus Peter, Fotos: Christian Holl (1+2), Cordula Vielhauer (3-6)
Architekturführung durch den Coworking und Makers Space Havfen, der kürzlich mit dem Niedersächsischen Staatspreis ausgezeichnet wurde, durch die Architektin Anca Timofticiuc von Mensing Timofticiuc Architekten, Fotos: Cordula Vielhauer (1), Christian Holl (2+3)

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